Knigge? Bitte recht freundlich

Dem Frühling wollte ich ein Stück seines Weges zu mir abnehmen und bin ihm deshalb bis zur Amalfi-Küste entgegengeflogen. Dann habe ich meine Lieblingsjahreszeit ein Stück Weg’s bis nach Freiburg begleitet und nun sind wir beide wieder wohlbehalten (und einer von uns in voller Blüte) im unaufhaltsam grüner werdenden Berliner Vorort angekommen.
Einer der unschätzbaren Vorzüge des Älterwerdens ist m.E., dass man mit jedem Jahr den einsetzenden Frühling deutlicher wahrnimmt und ihm hohen Herzens entgegensehnt.
(naja, und vielleicht noch, dass man mehr Taschengeld hat, aber das war’s dann auch bald).

Knigge: “Gestatten? Knigge, Freiherr von. Es fällt mir immer schwerer, in fremden Hirnen Platz zu nehmen. Wie das beim Autor dieser Zeilen geschah, erzählt er am besten selbst”.
Autor: „Nun, das passierte während einer Fahrt entlang der Amalfi-Küste auf dem Weg nach Pompeji. Dieser Küstenstreifen liegt unterhalb Neapels an der Mittelmeerküste. Neben ihrer atemberaubenden Schönheit bietet er eine bemerkenswerte lange und schmale Straße. Diese zieht sich buchstäblich die ganze Küste entlang und ist auf der ganzen Stecke, gefühlt, so breit wie zwei Autos abzüglich Rückspiegel.
Auf dieser Straße findet man drei Arten von Fahrzeugen: Autos, Busse, Mopeds.
Wenn sich die Autos begegnen, dann wird kurz abgebremst, man sieht sich, fährt aufeinander zu und mit etwas Gottvertrauen erledigt sich der Rest von selbst.
Aufregender ist da schon das Leben eines dortigen Busfahrers. Der hupt kurz bevor die nächste enge Kurve kommt. Das ist ein Signal an den eventuell entgegenkommenden Autofahrer.
Dieser kann wahlweise: ganz rechts ranfahren, irgendwie zurückrudern oder, falls das Auto niedrig ist, versuchen, das Mobil kurz seitlich hochkant abzustellen (Das war ein Witz!).
Und wenn das geklärt ist und der Bus langsam anrollt, dann kommen noch zwei, drei todesverachtende Rollerfahrer angedüst, die sich noch ganz dringend durch die beständig enger werdende Schere zwischen Bus und Auto durchdrängeln müssen.
Ich durfte die autobusbedingte Aufregung aus beiden Perspektiven erleben, wobei mir, abgesehen vom Fahrkomfort, die aus dem Bus heraus wesentlich entspannter schien.
Und dabei, Herr von Knigge, sind Sie mir in den Sinn gekommen.“
Knigge, Freiherr von: Ach, ich erinner‘ mich genau. Als Sie in den Bus einstiegen, waren nur noch genau zwei Plätze frei. Auf den einen kommandierten Sie Ihre Gemahlin. Neben dem anderen saß eine ältere Dame. Saß breit auf dem Gangplatz (das fiel ihr nicht schwer) und hatte eine Handtasche auf den freien Sitz neben sich abgestellt. Filmreif verfiel sie in einen sofortigen Tiefschlaf, als Sie sich nach einem freien Platz umschauten und in Ihre Richtung blickten.
Autor: Nein, das meine ich nicht. Und auch nicht die junge Dame, die etwas später lächelnd den Platz freimachte für einen zusteigenden jungen Vater mit einem Dreikäsehoch auf dem Arm.
Knigge, Freiherr von: Ja, die war cool. (Anmerkung des Autors: er antwortete mit einem Augenzwinkern, erwartete er doch sichtliches Erstaunen auf meiner Seite ob des Gebrauchs dieses neumodischen Allerwelt-Anglizismus. Er wollte wohl mit der Zeit gehen.)
Autor: Da fällt mir eine Geschichte ein. (Anm.d.A.: ‚Da kommt gleich etwas Lehrreiches‘, stand Knigge, Freiherr von, auf die Stirn geschrieben.)
Meine Frau, müssen Sie wissen, stammt aus einer Kleinstadt mitten in der Wüste in Südafrika. Als sie vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren in unser Land kam, gab es vieles, worüber sie staunte. Zum Beispiel Busfahrer.
Knigge, Freiherr von: Sie haben’s heute aber mit Busfahrern.
Autor: Mag sein. In den ersten zwei Wochen war sie zweimal von Busfahrern gerügt worden.
Das erste Mal, weil das Geld für’s Ticket zu groß, das nächste Mal, weil es zu klein war.
Man stelle sich vor: sie verstand zu der Zeit kein Wort Deutsch, außer vielleicht „Sah ein Knab‘ ein Rös‘lein steh’n“, das musste ich ihr immer vorsingen.
Aber die Rüge fiel beide Male so deutlich aus, dass sie verstört und gehörig zurechtgewiesen Platz nahm.
Doch damit war ihr Wundern ob der Sitten nicht vorbei, in diesem unbekannten Land, wo die Menschen rohes Schweinefleisch auf’s Brötchen schmieren (Ihr Vater meinte am Telefon, da habe sie wohl etwas falsch verstanden, als sie ihm bei ihrem ersten Besuch hier entsetzt von meinem Mettbrötchen berichtete).
Bei nachfolgenden Busfahrten bemerkte sie lustig auf dem Sitz die Beine baumeln lassende Jugendliche, während neben ihnen ein altersgebeugtes Mütterlein (oder Väterlein), verbissen in die Haltestange, den einsetzenden Fliehkräften zu widerstehen suchte.
Ein solch respektloses Verhalten, erzählte sie mir, wäre den Teenies dort, wo sie herkam, nie in den Sinn gekommen. ‘Patsch’ hätte es vermutlich eine hinter die Löffel gegeben.
Nun, vielleicht lag es auch ein bisschen daran, dass man dort im Nahverkehr nicht Bus fuhr (oder zumindest nicht so, wie wir das kennen, aber das ist eine andere Geschichte).
Etwas später, sie war mittlerweile eine routinierte und beobachtende Busfahrerin geworden …
Knigge, Freiherr von: Sie müssen dringend über ihr Verhältnis zum Busfahren nachdenken!
Autor (unbeeindruckt): Also etwas später revidierte sie ihre Meinung. Sie hatte mittlerweile Omas erlebt, die in Supermärkten gnadenlos ihre Einkaufswagen oder Rollatoren als hinterhältige Waffe missbrauchten, hatte Opas hören müssen, die aus nichtigen Gründen Kinder anblafften. Alte Leute, die sich vordrängelten oder anderweitig Rücksicht vermissen ließen.
Auch so etwas, meinte meine Gattin, habe sie bei sich zu Hause nie erleben müssen. Wer Respekt einfordert, sollte sich auch so verhalten, dass er Respekt verdient.
Knigge, Freiherr von: Also das nun hätte von mir stammen können. Interessant, in den fünfziger Jahren hatte jemand ein Buch darüber geschrieben, wie mein Werk zu jener damals modernen Zeit zu interpretieren sei.
Da konnte man zu Beispiel lesen, wie eine Vorstellung bei einem häuslichen Empfang von statten ginge.”
Autor: Sie werden es nicht glauben, ich habe das Buch auch gelesen, oder zumindest darin geblättert, während ich auf dem Klo saß. Da stand: Zuerst natürlich den Mann vorstellen. Man sagt nicht plump ‘Und das ist Frau Müller.’, weil man die Dame nicht so öffentlich präsentieren möchte, sondern erwähnt ihren Namen eher beiläufig, vielleicht verbunden mit einem Kompliment, etwa wie: “Frau Müller hat diesen phantastischen Kuchen gebacken.’
Knigge, Freiherr von: Im Kern gebe ich Ihnen hier recht. Aber das mit dem Klo sind etwas zu viele Details.
Autor: Worauf ich hinaus wollte ist letztlich folgendes: Jede Zeit hat ihren ganz eigenen Bedarf an Höflichkeit und Umgangsformen. Die mögen unterschiedlich ausfallen, aber ganz auf sie zu verzichten, ist eine gefährliche Sache. Ohne sie nämlich prallen Menschen im täglichen Gewühle aufeinander und ohne sich zu entschuldigen oder wenigstens darauf zu achten, ob man den anderen vielleicht verletzt haben könnte, gibt es um einen rum immer mehr beleidigte und verletzte Menschen. Das ist doch eine verheerende Vorstellung.
Knigge, Freiherr von: Doch nun zurück zu Ihnen, mein liebes Schreiberlein, wie nun sind Sie denn ausgerechnet im fernen Italien an der Amalfi-Küste auf mich gekommen?
Autor: Ach, das weiß ich jetzt auch nicht mehr. Wird wohl nichts Wichtiges gewesen sein.