Grüne Bohnen und Quark – Mutig sein

Neulich erzählte ich meinem alten Kumpel Gonzo von Roland, jenem mutigen und stolzen Recken aus dem Heer Karls des Großen, der als Chef der Nachhut gemeuchelt wurde, nachdem eigentlich alles schon gelaufen war und die Truppe sich eh auf dem Weg nach Hause befand.
Nach diesem hatte mein Vater, der sich gern beim Baden in alten Mythen zusah, mich dereinst benannte.
Mit geringem Erfolg, wie die folgenden Jahre zeigten.
Gonzo meinte daraufhin, mutig sei nicht der, der jede Keilerei anzettelt, sondern der, welcher seine eigene Angst überwindet.
Das gefiel mir. In diesem Sinne nämlich bin ich dann doch wieder mutig, wie die folgende Geschichte belegt.

Es geschah an einem Freitag Mittag vor etwa fünfzig Jahren. Dass es ein Freitag war, weiß ich so genau, weil es an jenem Tag grüne Bohnen und als Nachtisch Quarkspeise in der Schulspeisung gab. Beides spielt eine tragende Rolle in der Geschichte, deshalb soll es hier erwähnt sein. Grüne Bohnen mit Quarkspeise gab es eigentlich an jedem Freitag. Montags Graupen, Freitags grüne Bohnen. Quarkspeise an beiden Tagen.
An jenem Freitag stürmte ich als Dreikäsehoch aus der fünften Klasse in das zum Essenraum umfunktionierte Klassenzimmer mit der nachträglich eingefügten Durchreiche zur Küche. Die Schlange war wie immer ellenlang, ging bis zum Flur hinaus und das Thema, ob man für jemanden freihalten könne oder nicht, wurde alle paar Schlangenmeter kontrovers bis handgreiflich diskutiert. Mehr oder weniger brav stand ich in der Reihe unterbewegter und überhungriger Schüler der diversen Klassenstufen. Der Zug schlängelte sich allmählich dahin und spülte die hungrigen Mäuler unaufhaltsam in Richtung des Schlangenkopfes. Dort allerdings lauerte die gefährlichste Furie der gesamten Schule, die Essenausgeberin. Sie selbst bezeichnete sich als die Schulköchin, obwohl sie das Essen eh fertig gekocht angeliefert bekam. Aber das, mein Lieber, glaub’ mir, sagtest du ihr besser nicht in’s Gesicht. Gnade dir Gott, wenn du deine Essenmarke vergessen hattest oder sie in besudeltem Zustand aus deiner Hosentasche hervorkramtest. Sie machte dich rund wie ‘nen Buslenker, das war mal klar. Eine Standpauke gab es, bei der sie dir auch gleich alle vergessenen Essenmarken der vergangene drei Jahre unter die Nase rieb. Nachprüfen ließen sich ihre Anschuldigungen natürlich nie. Allerdings bestand, was die vorgeworfene Menge betraf, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, so dass es geraten schien, schlicht die Klappe zu halten. Außerdem kannte sie meine Mutter.
Mich armen Tropf erwischte es auch glatt. Nicht den blassesten Schimmer hatte ich, wo der wöchentliche Abreißblock wohl hingekommen sein könnte. War ja egal, heute am Freitag. Am Montag gab’s eh einen Neuen.
Ich dachte an das anstehende Wochenende und die Pläne, die ich zu dessen Gestaltung bereits in der vergangenen Unterrichtsstunde geschmiedet hatte. Währenddessen tropfte die Schimpfkanonade der Essenausgeberin, und jawoll, das war sie nämlich nur, an mir ab wie Brause vom Kinn beim überhasteten Trunk aus der Limopulle. Bei nächsten Mal bla bla immer bla bla nie bla. Irgendwann hörte das dann auch auf. Es warteten ja schließlich noch mehr Kinder darauf, angebrüllt zu werden.
Pitsch, eine Kelle Bohnensuppe auf den Teller und platsch eine kleinere Kelle Quarkspeise in das Plasteschälchen, modisch und stapelbar zum Quadrat geformt. (Anm.d.A.: Zu jener Zeit und in jener Gegend waren es natürlich Plasteschälchen. Das schick “ik” wurde erst später, als die Mauer fiel, an das Plast getackert.)
Glücklich, nicht wegen der Suppe, sondern wegen der ohne weitere Folgen für meine arme Kinderseele überstandenen Schimpfkanonade, stellte ich Teller und Schale auf das Tablett und machte mich bereit für den schwierigen Parcours. Vorbei an Stühlen, die, geschubst mit den Kniekehlen eines aufspringenden Schülers, unvorhersehbar in den Weg katapultiert wurden. Hinüber gestiegen über Schulranzen, Schals, Jacken, manchmal auch Kinder, die sich als zu schwach für den Parcours erwiesen hatten. So bahnte ich mir meinen Weg durch die johlende Menge, hin zu meinem Freund, der mir einen Platz frei gehalten hatte. Das war legitim, während das Freihalten in der Schlange, wie bereits erwähnt, als unverzeihliches Vordrängeln zu werten war.
Gerade als ich durch einen geübten Hüftschwung bei gut ausbalanciertem Tablett einer angekippelten Stuhllehne ausgewichen war, geschah das Unerwartete, allerdings auch irgendwie Erwartbare.
Im Augenwinkel hatte ich bereits den Unhold aus der Klasse über mir bemerkt. Ein straff durchtrainierter Raufbold und schulbekannter Tunichtgut. Bekannt für Rüpeleien und Schulhofschlägereien nicht nur in seiner Gewichtsklasse.
Sich in der eigenen Gruppe auf dem Schulhof zu kloppen, nach ehernen Regeln, die schon unsere Väter kannten, war quasi Ehrensache. Das war dein Beitrag zur gesunden Gruppendynamik. Je höher der Rang, desto häufiger die Kloppe. Bei mir genügte ein Halbjahresturnus. Das war unterer Durchschnitt. Es begann mit einer kleinen Pausenrempelei und der Ankündigung, man würde dem anderen in der Hofpause eine auf’s Maul geben, ihn fertigmachen oder ähnliches, je nach Bildungsstand. Dabei war zu beachten, dass der andere etwa gleichstark war. Zu klein oder schwach: wenig Ehre, da lohnte sich das Risiko der zerrissenen Jacke nicht (und die Schwachen neigen dazu, den Stärkeren die Jacke kaputt zu machen). Zu groß und vor allem zu stark: Tja, Pech für dich. Und die Jacke konntest du schonmal abschreiben.
Auf dem Hof bildete sich dann eine Traube um die Kombattanten. Diese wurden im Auge des Sturms aufeinander zugeschubst und angestachelt. Bis der erste der Aufforderung “Trau dich doch” nachkam. Das Schauspiel endete auf eine von zwei möglichen Weisen. Möglichkeit eins: einer lag unten im Schwitzkasten und stieß wimmernd aber dennoch mit Verachtung in der Stimme ein “Ich geb’ auf” hervor. Möglichkeit zwei: ein Lehrer, der sich während der Pausenaufsicht etwas Bewegung verschaffen wollte, oder generell was gegen Raufereien hatte, steuerte auf die Traube zu. In diesem Fall war Eile geboten. Die Kontrahenten wurden von den Sekundanten, also besten Freunden, getrennt und mit der Traube verschmolzen, die sich alsdann entfernte, so als wäre nie was gewesen. In diesem Fall galt allerdings der eiserne Grundsatz “Aufgeschoben ist nicht aufgehoben”. Das ging in einer späteren Pause in eine nächste Runde.
Doch zurück zu unserem Tunichtgut. Zu erwähnen ist, dass er nicht nur sich außerhalb seiner Gewichtsklasse prügelte, was ja die Definition eines Raufboldes ausmacht, im Gegensatz zu uns anderen, die wir ja nur unsere Pflichtkämpfe absolvierten. Er war überdies gemein, unberechenbar, in der Regel von einer Handvoll ähnlich veranlagten Burschen geringerer Durchschlagskraft umgeben und, das soll nicht unerwähnt bleiben, anderthalb Köpfe größer als ich. Er hatte die Lehne seines Stuhls für eine entspanntere Schussposition gegen die Wand gekippelt. Aus dieser Stellung heraus schippte er nun einzelne Bohnen auf seinen Löffel, spannte diesen zwischen Daumen und Zeigefinger der einen Hand und spannte mit dem Zeigefinder der anderen Hand den Löffel zu einer wirkungsvollen Schleuder. So bomdardierte er mit seiner Ladung Bohnen die umliegende Schülerschaft. Diese duckte sich, so gut es ging. Selbst die Mädchen verkniffen sich ihr iiii-Gequietsche, da sie wussten, das er, als Vorreiter der Gleichberechtigung, wenig Unterschied zwischen Jungs und Mädles machte. Jeder Treffer wurde vom ausgiebigen Gejohle seiner Claqueure begleitet.
Ganz besonders stark wurde das Gejohle, als eine der Bohnen mittig und exakt nach Norden ausgerichtet aber genau auf meiner Quarkspeise landete. Dort thronte sie. Grinste mich an, die doofe Bohne. Voller Hohn blickte sie mir keck in’s Gesicht und wisperte mir zu: “Und? Was nu’?”
Alle an meinem Tisch hatten diesen, das musste ich mir eingestehen, kunstfertigen Schuss verfolgt.
Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich plötzlich und unvermittelt an einem der großen Scheidewege meines noch so jungen Lebens angekommen war. Ich konnte mich hinsetzen, als wäre nichts gewesen. Die Freunde würden ein wenig spotten, ich würde die Quarkspeise verächtlich zu Seite schieben und alles wäre vergessen. Ich konnte einen Witz machen, bei dem der Tunichtgut schlecht davon kam. Das war schwierig, aber lag im Bereich meiner verbalen Möglichkeiten.
Oder ich könnte die Schlacht meines Lebens schlagen. Könnte Punkte sammeln, dass das Klingeln der inneren Slotmaschine zum ohrenbetäubenden Dauergebimmel würde. Konnte zum Held, nun vielleicht nicht der Schule und für immer, wohl aber meiner Getreuen werden. Und sei es nur für einen Tag.
Ich stellte zunächst das Tablett auf den Tisch und legte meine Jacke ab. Die würde das, was nun kam, nicht überleben. Daraufhin entnahm ich mit dem Suppenlöffel eine gehörige Portion der bohnenbesudelten Quarkspeise aus der Schale und zwar so, dass die Bohne, die so jäh in mein recht friedliches Leben eingedrungen war, in der Mitte des Löffels zu liegen kam.
Nachdem ich nun mein Leben in Gottes Hand gelegt hatte, ging schnurstracks, ohne mich von meinen lieben Kameraden zu verabschieden, auf den Tisch in der Ecke zu hinter dem, mir zugewandt der Unhold in die Runde grinste.
So breitbeinig, wie es mir in dem Gedränge möglich war, stellte ich mich ihm gegenüber auf. Zwischen uns nur der Tisch. Mit so wenig wie möglich Zittern in der Stimme, laut, deutlich, es sollten ja möglichst viele etwas davon haben, fuhr ich ihn an: “Hier hast du deine Bohne wieder.” Und ohne weiteres Zögern spannte ich nun meinerseits den quarkspeisebeladenen Löffel in der gleichen Weise, deren Wirksamkeit er ja zuvor bereits nachgewiesen hatte, und schleuderte dessen Inhalt, immerhin ein guter Kindermund voll Quark, direkt in den vor ihm stehenden Teller. Da der Tunichtgut nach wie vor in der von ihm bevorzugten Kippelstellung verharrte, blieb ausreichend Platz zwischen ihm und der Tischkante um nicht nur sein Hemd sondern auch seine Hose und selbstverständlich auch seine Jacke ausreichend mit verspritzter Bohnensuppe zu besudeln. Was für ein Fest!
Stolz, und ohne mich noch einmal umzuschauen, machte ich auf dem Absatz kehrt und ging festen, ruhigen Schrittes zu meinem Platz.
(Diesen Satz glaubt ich mir nicht einmal selbst, deshalb noch einmal:)
Ich drehte mich schlagartig um, wohl wissend, was mir jetzt blühte. Eilig steuerte ich meinen Platz an, obwohl alles in mir schrie: “Renn weg, Junge, renn um dein Leben.”
Kaum am Platz angelangt, hatte er sich bereits hinter mir aufgebaut. War vermutlich über ein paar Tische und Stühle gesprungen, das oder laufen machte für ihn kaum einen Unterschied. Schnappte mich am Kragen und ohne weiteres Zögern hämmerten seine Fäuste auf mich ein.
So schlimm war das aber gar nicht, denn als relativ Kleinwüchsiger, im Sport nach Größe sortiert gottseidank nur der Vorletzte, da kam noch einer hinter mir, eignet man sich sehr bald die lebensverlängernde Kunst des wirksamen Einigelns an. Der Hals wird soweit eingezogen, dass das Kinn kaum noch ein Ziel bietet, die Augen bestmöglich mit den Händen bedeckt, sonst blaues Auge, Arme angewinkelt um die Flanken zu decken und den Oberkörper zusammengekrümmt. Daher der Name Igel.
Die Jacke hatte ich ja, wie erwähnt zuvor abgelegt, deswegen würde es schonmal keine Mecker zu Hause geben.
Gerettet aus meiner misslichen Lage, die Einigelstellung hält energischen Angriffen nicht all zu lange stand, hat mich dann letzten Endes die Pausenklingel. Klingeling. Nächste Stunde in fünf Minuten. Wieder eine Pause überlebt. Was will man mehr.
Mein Freund, der treueste meiner Gefährten, trug meinen Ranzen auf dem Weg zu Klassenraum und fragte mich mitfühlend irgendwas Nettes.
Und ich? Ich strahlte, denn mir war klar: Feige bin ich schonmal nicht.

Anmerkung zu dem eigenartigen Beitragsbild.
Für das Bild habe ich erstmalig die openai-engine “DALL-E” bemüht. Das ist eine KI-Maschine aus dem Haus, in dem auch das momentan viel besprochene chatGPT stammt. Man gibt einen Text ein und die Maschine denkt sich dazu ein Bild aus. Faszinierend, wenn man, so wie ich, nur über ein sehr begrenztes zeichnerisches Potential verfügt.
Ich habe hier eingegeben: “A painting by Chagall with a little school boy that carries a knight armor and fights against a bowl with bean soup”.
Das Ergebnis möge ein jeder für sich bewerten. Aber eins ist Fakt: hätt’ ich’s gemalt, säh’s schlimmer aus.