Ist ein Mann in’n Brunnen gefallen

Veröffentlicht in Badische Zeitung 15.01.2024 “Wie das Klavierspiel Vater und Sohn verbindet

Die ganze Familie ist der Musik verfallen. Mutter und Sohn Alessio spielen seit Jahren Klavier und Geige, die Tochter studiert. Sie spielt ebenfalls diese Instrumente. Flavio, der Vater, ein gestandener Ingenieur, hat vor einigen Jahren beschlossen, sich dem Familientrend anzuschließen und nimmt auch Klavierunterricht.
Alessio hat mit dem Abitur viel um die Ohren. Dennoch konnte er auf wichtigen bundes- und landesweiten Wettbewerben in den vergangenen Jahren hervorragende Ergebnisse erzielen. Im vergangenen Jahr wurde er Preisträger beim Bundeswettbewerb in Zwickau.
Vater Flavio und Sohn Alessio gestatteten mir einen Blick hinter die Kulissen. Im Gespräch ging es vor allem um Motivation, Erfolge und Schwierigkeiten beim Leben mit Klavier. Dabei wurde auch deutlich, dass beide nicht nur die Liebe zum Motorradfahren gemeinsam haben, sondern auch einen Hang zu bescheidenem Understatement.
Ich darf die beiden duzen, wir sind uns bereits vor einiger Zeit begegnet.

Flavio, wie kamst du zum Klavierspiel?

Flavio: Mit Musik hatte ich nie viel zu tun gehabt. Mein Interesse galt dem Sport. Judo betreibe ich seit mehr als fünfzig Jahren. Vor einigen Jahren gab es ein Schlüsselerlebnis. Ich arbeite in einem 250-köpfigen Projektteam. Dort kam man auf die Idee, eine “Projektband” zu gründen. Eine Abfrage machte die Runde: wer spielt welches Instrument und wie gut.
Bei mir gab es natürlich keinen Eintrag. Als ich die Kollegen dann spielen sah, dachte ich: “Jeder da oben kann irgendwas und du kannst gar nichts.” Das muss sich ändern.
Mein Sohn Alessio hatte zu der Zeit einen Aushilfslehrer mit einer humorvollen, unkonventionellen Art. Ihn fragte ich, ob er wohl auch einen blutigen Laien wie mich unterrichten würde. Er lachte nur und sagte zu. Seitdem gibt’s Klavierunterricht. Der Anfang war schwierig. Ich konnte keine Noten lesen. Unter einem Notenbild kann ich mir nichts vorstellen, grad so, wie wenn ich jemandem eine Maschinenbauzeichnung unter die Nase halte.

Arbeitest du am Notenlesen?

Flavio: Ich habe dabei Schwierigkeiten, mir Dinge einzuprägen und zu merken. Das dauert lange und ist mühselig. Vielleicht hat das mit Alter zu tun.
Der Lehrer unterstützt mich mit Hilfsmitteln. Er schreibt die Fingersätze über die Noten. Mit dieser Unterstützung kam ich ganz gut zurecht.

Alessio, du liest Noten wie andere Texte lesen, richtig?

Alessio: Ja, meist schon. Wenn die Noten megahoch oder -tief sind, muss ich schon mal nachzählen.

Wenn du Noten zu einem unbekannten Stück liest, kannst du dir vorstellen, wie das klingt?

Alessio: Es gibt Leute, die haben ein absolutes Gehör und auch rhythmisch ein tiefes Verständnis. Ich habe kein absolutes Gehör. Aber ich kann mir doch recht genau vorstellen, wie ein Stück klingt.

Flavio: Die Stücke, die mir Schwierigkeiten bereiten, schaut er kurz an und spielt sie dann einfach so runter.

Alessio: Ja, das sind halt für mich keine Schwierigkeiten.

Habt ihr schon einmal zusammen gespielt?

Flavio: Wenn ich mit dem Lehrer zusammen spiele, passt er sich an meine rhythmischen Ungenauigkeiten an. Wenn ich mit Alessio spiele, dann spielt er korrekt.

Alessio: Da fehlt mir die Erfahrung. Ich spiele seltener mit anderen zusammen. Ich kann mich da noch nicht so gut anpassen.

Flavio: Der Klavierlehrer freut sich immer, wenn wir vierhändig so durch ein Stück durchkommen. Er hat ein sehr hohes Frustrationslevel.

Flavio, sind sie manchmal frustriert?

Flavio: Ich saß an einer vereinfachten Version von Brahms Wiegenlied. Linke Hand anders als die rechte. Und du übst und übst und dann denkst du: jetzt hab ich’s. Dann spiele ich das der Familie vor und falle prompt damit durch. Dann spielen beide mir das Stück vor und meinen, so nun spiel das mal so. Da prasselt so ein geballtes Wissen von gleich zwei Klaviervirtuosen auf dich ein und du denkst: “Jetzt kannst du gar nichts mehr.” Aber der Klavierlehrer meinte “Papperlapapp, das ist alles gut so.” Das gibt dann wieder Hoffnung.

Aber das ist auch ein ganz positives Element für mich. Ich unterrichte seit Jahren Kinder im Judo. Judo kann ich im Schlaf. Oft war ich bei den Kindern frustriert. Ich hab‘ es ihnen tausendmal gezeigt und sie haben es immer noch nicht gecheckt. Mittlerweile habe ich eine Engelsgeduld entwickelt. Denen geht es wie mir beim Klavierspielen. Ich habe jetzt kein Mitleid mit ihnen aber jede Menge Verständnis. Ich glaube, ich bin als Judo-Trainer jetzt besser geworden. Ich zerlege komplexe Abläufe in kleine Teilstücke.

Wenn du gewohnt bist, als Projektmanage komplex zu denken und zu agieren und du wirst beim Klavierspielen auf das Niveau eines Erstklässlers zurückgeworfen, das ist schwierig. Du bist im Judo gut, im Job gut und dann machst du auf einmal etwas, wo du völlig im Dunkeln tappst.

Alessio, mit wieviel Jahren hast du mit dem Klavierspiel angefangen?

Alessio: Mit vier Jahren war das eher so ein “Tastengeplänkel”. Richtigen Unterricht hatte ich erst mit zehn. Da habe ich auch etwas professioneller gespielt, bin zu Wettbewerben gegangen. Davor war es Vorbereitung.
Noten hat mir die Lehrerin mit Farben beigebracht. Jede Taste bekam einen farbigen Aufkleber. Nach und nach wurden immer mehr Farben entfernt. Ich fand das System recht gut und habe versucht, das auch bei meinem Vater anzuwenden.

Flavio: Er hat es versucht. Aber das wurde so komplex für mich. Noten, Tasten, nun auch noch Farben. Am Anfang hat das durchaus geholfen, aber jetzt brauche ich das nicht mehr.
Ich hatte dann eine Übungstastatur aus Pappe, auf der die Noten abgedruckt waren, die haben wir hinter die Tasten gestellt. Aber mein Lehrer meinte: “Papperlapapp, das kriegen wir auch so hin.”

Alessio: Diese Übungstastatur wird auch gern von den Wettbewerbsteilnehmern zum Einspielen benutzt. Meine Lehrerin fand diese Methode nicht gut, da die Kinder lernen sollen, die Noten mit der Tastatur direkt zu verknüpfen.

Flavio, warum lernst du Klavierspielen?

Flavio: Ich wollte etwas tun, bei dem ich Neuland betrete.
Es reizt mich, etwas zu machen, was ich nicht kann.  Mittlerweile kann ich erste Stücke spielen. Das ist ein Erfolgserlebnis. Wenn wir Besuch hatten, sagte ich früher: Alessio, spiel uns bitte etwas vor. Und er: Nö, will ich’. Mittlerweile, wenn Besuch kommt, antwortet er: “Papa kann auch spielen. Zeig doch mal, was du kannst.” Und dann gehe ich an das Klavier und spiele meine Stücke runter.
Wir sind nach Freiburg in das Pianohaus Lepthien gegangen, um uns nach einem Steinway-Flügel umzuschauen. Im Geschäft meinte ich zu Frau und Sohn: “So, jetzt spielt mal.” Sie antworteten: “Nein, wir trauen uns nicht”. Zumal da noch ein Kunde war, der sehr professionell zur Probe spielte.

Alessio: Ich war zwölf, da habe ich mich das nicht getraut.

Flavio: Also bin ich zu den Flügeln gegangen. Ich konnte das Lied “Ist ein Mann in’n Brunnen gefallen”. So bin ich von Steinway-Flügel zu Steinway-Flügel gegangen und habe das Lied auf jedem Flügel probiert. Anschließend diskutierte ich mit dem geduldigen Verkäufer über die unterschiedlichen Klangfarben der Instrumente.

Mit zwölf darf man kneifen. Nun, Alessio, bist du vermutlich entspannter?

Als ich in Zwickau zum Wettbewerb war, stand auf dem Marktplatz ein Flügel. Darauf haben die Teilnehmer alle gespielt. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich’s kann, dann ist das kein Problem. Die Stücke spiele ich nun so lange, da weiß ich, unter ein bestimmtes Niveau kann ich nicht fallen.

Alessio, warum spielen Sie Klavier?

Alessio: Meine Mutter meint, ich wollte das. Ich weiß es nicht mehr.
Manchmal war es wohl, weil ich an Wettbewerben teilnehmen wollte, manchmal weil es Spaß machte.
Heute vor allem, weil ich Musik schön finde.
Es gab einen Sparkassenwettbewerb in Müllheim. Da habe ich mit elf Jahren teilgenommen und 120 Euro gewonnen. Das war cool.

Flavio: Ähnlich begann es bei ihm mit der Geige. Seine Schwester spielt Geige. Sie hat mit ihrer Freundin auf dem Weihnachtsmarkt gespielt und es ist ordentlich was zusammengekommen. Das fand Alessio Klasse. Das wollte er auch machen.

Alessio: Ja, mit dem Klavier ist das halt schwierig.

Flavio: Und so fing Alessio an, zusätzlich Geige zu spielen.

Alessio: Ich spiele Geige, seit ich zehn bin. Aber da bin ich nicht so gut. Am Klavier bin ich zu Hause aber Geige ist immer etwas fremd für mich. Die Technik ist sehr unterschiedlich.

Alessio, hast du manchmal Stress am Klavier?

Alessio: Früher manchmal, wenn es ein Vorspiel gab, zu dem ich keine Lust hatte. Heute gar nicht mehr. Beim Klavier komme ich auch mit relativ geringem Übungsaufwand hin.

Flavio, ist Musik Entspannung für dich?

Flavio: Ich war immer ein eher fauler Schüler. Wenn Druck entsteht, zum Beispiel weil morgen der Lehrer kommt, dann muss ich üben. Das ist weniger entspannend.

Alessio: Bei mir ist das ähnlich. Ich muss das ändern, auch schulisch. Üben finde ich nicht so toll. Spielen ist immer schön.

Wo ist der Unterschied zwischen Spielen und Üben?

Alessio: Ich mag es, Stücke durchzuspielen. Ob es gut ist oder nicht ist dabei nebensächlich. Beim Üben müssen einzelne Passagen wiederholt werden, bis sie sitzen.

Wie üben sie, Flavio?

Flavio: Im Alter hast du nicht so schnell Erfolge. Erfolge sind mühsam erarbeitet.

Alessio: Ich weiß nicht, ob das nur für das Alter zutrifft. Ist das vielleicht nur die eigene Wahrnehmung? Das meiste, was du im Leben machst, hast du schon einmal gemacht. Und etwas Neues zu lernen ist einfach schwer. Ich kann mir gut vorstellen, dass es manchmal so wirkt, als kämest du nicht voran.

Flavio: Wenn du etwas gut kannst, dann denkst du, du kannst das irgendwie übertragen. Aber das geht nicht so. Du musst akzeptieren, dass du ganz neu anfängst.

Alessio: Klavier ist etwas komplett anderes. Da kannst du wenig mit deinem Leben verknüpfen. Die Fingertechnik zum Beispiel, das Übersetzen, die Spannweite.

Flavio, machen deine Finger da mit?

Flavio: Nein, meine Judo-Hände sind festes Zugreifen gewöhnt. Das hat nichts mit der Feinmotorik zu tun, auf die es am Klavier ankommt.

Alessio, wie geht es bei dir mit der Musik weiter?

Alessio: Ich möchte nicht Musik studieren. Mich interessieren noch viele andere Bereiche. Aber als Hobby behalte ich das Klavierspiel auf jeden Fall bei.

Alessio, welche Musik hörst du?

Alessio: Meist Hip-Hop und Techno.

Und Klassik?

Alessio: Ich höre etwa 10 Prozent Klassik und sonst Techno und Hip-Hop. Was ich cool finde, ist ein Techno-Remix. Da werden klassische Elemente mit Techno gemischt. Zum Beispiel Bach mit einem groovigen Bass d‘runtergemischt. Das ist cool.

Hast du eine kreative Ader?

Alessio: Nein, eher nicht. Ich habe recht wenig Interesse daran, etwa wie im Jazz zu improvisieren. Ich mag es, Stück in der Tiefe zu erfassen und zu interpretieren.

Flavio, wo geht es bei dir hin mit der Musik?

Flavio: Klavier habe ich auch aus praktischen Gründen für mich ausgesucht. Ich werde nicht mehr beliebig lange Motorrad fahren können. Und auch beim Judo gibt es eine physische Grenze. Aber Klavier fordert mich. Es bringt mir Freude und ich kann es wohl noch lange betreiben.